IMAG1570-[339487]Wer bereits bei größeren Volksläufen mitgemacht hat, kennt die meist mit Kreide auf den Boden geschriebenen Nachrichten, die oftmals motivierend, aufbauend oder lustig sein sollen („Halt durch Tim“, „Quäl‘ dich Ulrike“ oder „Umkehren wäre jetzt blöd“). Wer am 25.10. in Frankfurt auf der Strecke war, konnte mehrmals den Schriftzug „Arne vegan WR“ lesen. Man muss kein Dechiffrierkünstler sein um zu kombinieren, dass mit den Schriftzügen der deutsche Spitzenathlet Arne Gabius gemeint ist, der sich in der Öffentlichkeit bereits sehr häufig zum Thema vegetarischer bzw. veganer Ernährung und sportlichem Leistungsvermögen geäußert hat. Ob er mit seiner Spitzenzeit von 2:08:33h nicht nur den deutschen, sondern auch einen Weltrekord der Veganer geknackt hat, ist nicht überliefert aber ein Schmunzeln hat es Arne Gabius sicherlich dennoch ins Gesicht gezaubert.

Einen ähnlichen, wenn auch ungleich langsameren Weltrekordversuch habe ich – wenn auch eher ungewollt – an diesem 25. Oktober gestartet. Statt „Arne vegan WR“ hätte dann aber „bene Avastin WR“ auf  der Straße stehen müssen. Was natürlich niemand auf die Straße geschrieben hat, weil ich zum einen nicht berühmt bin und zum anderen, weil auf solche Ideen wohl eher die Ernährungsfanatiker kommen und weniger die Leute, die sich gerade einer Chemo-Theapie unterziehen. Denn Avastin ist ein Mittel aus der Krebsbehandlung. Eine vergleichsweise leichte Chemotherapie, die beispielsweise bei Brust oder Darmkrebs verabreicht wird. Seit einigen Jahren wird das Medikament auch NF2 Patienten getestet, in der Hoffnung, Tumorwachstum zu bremsen, es gänzlich zum Erliegen zu bringen oder die Tumore sogar schrumpfen zu lassen. Nebenwirkungen von empfindlichen Schleimhäuten über Schwäche und Schlappheit, bis hin zu Risiken wie Herzinfarkten oder geplatzten Blutgefäßen im Gehirn treten auf, wenn auch (glücklicherweise) bei den letztgenannten nur sehr selten.

Das ist doch mal ein interessantes Experiment: Man nehme einen mehr oder weniger trainierten Menschen mit Marathonerfahrung, verabreiche ihm Avastin, schüttle das Ganze einmal gut durch, setze dem Ganzen einen Marathontrainingsplan für Normalos vor und schaue, was dabei herauskommt. Kein Arzt (weder in der Onkologie noch in der Sportmedizin, noch Mediziner, die gleichzeitig Onkologen und Sportmediziner sind) konnten klare, geschweige denn gesicherte Aussagen darüber machen, welche Auswirkungen die Verabreichung von Avastin auf den Organismus im Kontext Ausdauersport (Muskelneubildung etc.) hat oder welche Risiken möglicherweise durch den Sport sogar potenziert werden. Anfang der Avastin-Thearpie war Winter 2012 – ich hatte im Oktober gerade meinen (vorerst) letzten Marathon hinter mir. Jetzt begann also auch die Karriere als Versuchskaninchen…

Da ich weder Lust auf Herzinfarkte noch auf geplatzte Äderchen im Kopf hatte – dafür umso mehr Lust auf Sport – begann für mich eine ganze Reihe an Selbstversuchen. Schritt für Schritt habe ich getestet, was möglich ist und was nicht. Im Fitnessstudio habe ich mir zunächst nur kleine Gewichte und wenige Wiederholungen zugemutet, später dann die Wiederholungen und schließlich – weil das Gefühl gut war und zusätzliche, sportbedingte Nebenwirkungen ausblieben – auch die Gewichte wieder erhöht. Im Kopf spielte aber immer wieder der Gedanke mit, ob ich mir den nächsten Liegestütz oder den nächsten Klimmzug noch erlauben kann oder ob dann vielleicht irgendwo irgendwas im Körper ganz gewaltig schief läuft. Es war physisch wie psychisch immer ein Drahtseilakt.

Ähnlich beim Laufen. Hier habe ich auch mit ruhigen, kürzeren Ausdauereinheiten angefangen und mich über Monate und letztlich Jahre hinweg intensiveren Belastungen und größeren Umfängen genähert. Bis ich mich im Frühjahr 2015 dazu entschloss, wieder einen Marathon in Angriff zu nehmen. Auch hier habe ich mich langsam an die größeren Distanzen von 25, 30 oder 35 Kilometern herangetastet und auch hier merkte ich „es geht“. Wobei gehen teilweise im wahrsten Sinne des Wortes zu verstehen ist. Ich hatte einige Male eine Art Herzrasen während Wettkämpfen, bei denen ich natürlich sofort gebremst und auf Gehen gewechselt bin. Ich hatte Tage an denen ich mich so schlapp fühlte und mich wirklich zum Training quälen musste und ich hatte Tage an denen es schlicht nicht zum Training oder zu der im Trainingsplan geforderten Intensität gereicht hat. Aber im Großen und Ganzen war ich auch dem Weg, die 42,195 km in Angriff zu nehmen.

Leider kam im Vorfeld des Wettkampfes dann eine Verletzung meiner Ferse (wahrscheinlich Fersensporn, weil Vorderbereich der Ferse) hinzu, sodass ich zwar den Segen meiner Hausärztin („Wenn Sie den Schmerz aushalten können“) und meines Orthopäden („Wenn es Ihnen so wichtig ist“) eingeholt habe, aber am Start nicht sicher war, ob ich das Rennen zu Ende laufen kann. Weder mit Blick auf die Ferse, noch mit Blick auf Avastin.

Der Verlauf des Rennens ist dann relativ schnell erzählt. Bis etwa zur Hälfte war alles in bester Ordnung – das NF2run.de-Trikot saß bestens, ich hatte meinen Rhythmus gefunden und war guten Mutes für die zweite Hälfte, zumal ich durch das „Rantasten“ an die größeren Distanzen einige Läufe jenseits der 30km gemacht hatte. Ein großes Fragezeichen stand jedoch auf den Kilometern jenseits der 35km Marke. Das ist die Schwelle, die im Marathon der Knackpunkt ist und auch die Schwelle, die man auch in der Vorbereitung nie überschreitet. Ich war selbst gespannt, was passieren würde. Es ging wieder aufs Drahtseil.

Leider machte sich dann aber die Ferse immer stärker Bemerkbar. Irgendwann so stark, dass mein Fuß dem Schmerz automatisch ausgewichen ist und ich nicht mehr sauber abrollen konnte. Das hat sich dann bis ins Knie gezogen, was eine wunderbare Schmerzkombination bei jedem Schritt ergeben hat – Sport ist eben manchmal Masochismus 🙂 Immerhin haben mich die Schmerzen von meinen Gedanken an Avastin abgelenkt.

Als ich bei Kilometer 35 ankam, habe ich ernsthaft an Abbruch gedacht. Aber mein Laufpartner Winfried, mit dem ich gemeinsam an den Start gegangen war, ihn aber im Laufe des Rennens aus den Augen verloren hatte, sammelte mich von hinten kommend ein und war das Zünglein an der Waage, das zum Weiterlaufen führte. Zusammen liefen wir dann der der Zielgeraden entgegen. In meinem Fall teilweise eher humpelnd als laufend aber ich kam voran. Mein Herz hielt bis zum Schluss, mein Hirn scheint auch noch zu funktionieren und dem Knie geht es auch wieder gut. Einzig die Ferse schmerzt weiterhin aber ich denke aus das bekomme ich in den Griff. In diesem Sinne: Danke Winfried für die Zusatzmotivation – rückblickend war das die richtige Entscheidung.

Zurück bleibt, dass ich den Marathon trotz Avastin geschafft habe. Ob ich vielleicht der erste Mensch bin, der das geschafft hat, wird wahrscheinlich genauso unbeantwortet bleiben, wie die Frage nach dem „Arne vegan WR“. Im Übrigen haben meine Recherchen ergeben, dass Arne Gabuis gar kein Veganer, sondern nur Vegetarier ist. Vielleicht war ich am 25.10. also sogar der einzige, der einen Weltrekord aufgestellt hat. Ein Weltrekord, der mich aber im Grunde nicht die Bohne interessiert. Viel wichtiger ist das gute Gefühl für das kommende Jahr. 2016 geht es weiter – mit Avastin und mit dem Sport. Wir sehen uns!

 

HINWEIS: Mir ist wichtig zu betonen, dass dieser Text kein Freifahrtschein zum Sportmachen für alle Avastin-Patienten ist. Das Zeug wirkt individuell so verschieden, dass ihr keinesfalls von meinen Erfahrungen auf euch schließen solltet. Ich empfehle jedem ein ähnlich vorsichtiges Vorgehen über längere Zeiträume hinweg, wie ich es oben beschrieben habe und natürlich enge Abstimmung mit euren Ärzten. Passt auf euch auf 😉

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